recoding sleep data 1984 blue

Die Anfänge der Schlafmedizin in Marburg.

Eine Zeitreise durch die Schlaflabore des 20. Jahrhunderts.

1981 begann Professor Jörg Hermann Peter (JHP) mit dem Aufbau eines Schlaflabors in der Medizinischen Poliklinik mit dem Ziel, die Atemregulation im Schlaf sowie die Schlafapnoe wissenschaftlich zu erforschen. Der damalige Direktor der Medizinischen Poliklinik in Marburg Professor Peter von Wichert hatte die Aktualität der Thematik „Atmung sowie Atmungsstörungen im Schlaf“ anlässlich eines Kongressbesuchs in den USA erkannt und sie JHP als Forschungsthema angetragen. JHP hatte großes Interesse an dem vorgeschlagenen Thema, schließlich hatte er nicht nur Medizin, sondern auch Psychologie studiert und in beiden Fächern promoviert. In seiner Promotionsarbeit zum Dr. rer. nat. hat er sich mit den Themen Vigilanz, Schläfrigkeit und Leistungsfähigkeit sowie den autonomen Regulationsmechanismen bei Lokführern auseinandergesetzt. Seine Ausbildung und die bereits durchgeführten Studien passten also bestens zur neuen Thematik.

Das „Zeitreihenlabor“.

Professor von Wichert und JHP haben Mittel und Wege gesucht, um Gelder für die Anschaffung von Gerätschaften und Personal zu akquirieren. Leider wurde bereits der erste Forschungsantrag von der DFG abgelehnt, sodass man sich um alternative Geldgeber und neue Antragsstellungen kümmern musste. Thomas Penzel, studierter Physiker, hat 1982 im „Zeitreihenlabor“ als erster Zivildienstleistender zu arbeiten begonnen. Hinsichtlich der Personalgewinnung sollte er sich, so JHP, um Zivildienstleistende mit „Sachverstand“ kümmern. Der Erfolg war, wie zu erwarten, eher gering. Ein dunkler Kellerraum der Medizinischen Poliklinik wurde fortan für Forschung und Wissenschaft genutzt. Damit war der räumliche Grundstein gelegt. Wir Doktoranden (3 an der Zahl) fanden die Bezeichnung „Zeitreihenlabor“ merkwürdig und mussten uns manchen Spott anhören, was denn „Zeitreihen“ für ein Forschungsgebiet sei. JHP hat diesen Begriff aber bewusst gewählt, zumal die „Zeitreihe“ verdeutlichen sollte, dass sich Biosignale in ihrer wechselseitigen Beeinflussung nur über unterschiedliche Zeiträume (zum Beispiel Tag/Nacht) sinnvoll interpretieren und bewerten lassen. JHP, Thomas Penzel und wir Doktoranden haben den Kellerraum dann zu einem „Zeitreihenlabor“ mit Möbeln, technischen Gerätschaften und Schreibmaterialien aufgerüstet. Es wurde überall gesammelt und gebettelt, Not macht erfinderisch!

Die Erforschung von Schlafstörungen erfordert ein interdisziplinäres Kompetenz-Team.

Es war JHPs Vorstellung, eine wissenschaftliche Gruppe aufzubauen, die sich mit verschiedenen Schwerpunkten und Aufgabenbereichen der „Atmung im Schlaf“ auseinandersetzen sollte. Für ihn und Peter von Wichert war die Interdisziplinarität der Schlafmedizin immer von zentraler Bedeutung. Beiden war wichtig, ein großes, fachübergreifendes Netzwerk aufzubauen. Schlaf war ein Thema für Pneumologinnen, Pneumologen, Kardiologinnen, Kardiologen, Endokrinologinnen, Endokrinologen, HNO-Ärztinnen und -Ärzte, Neurologinnen, Neurologen sowie Psychiaterinnen und Psychiater! Die initiale Kerngruppe der fortan genannten Arbeitsgruppe „Klinische Zeitreihenanalyse“ bestand aus JHP, den Physikern Eckart Fuchs und Thomas Penzel, den beiden Ärzten Thomas Podszus und Jürgen Mayer sowie uns drei Doktoranden. Während sich Thomas Penzel in erster Linie mit der Softwareentwicklung beschäftigt hat, war Eckart Fuchs für die Hardware und das „Reparieren des Kofferinhalts“ zuständig. Thomas Podszus und Jürgen Mayer sollten sich mit dem Thema Hämodynamik bei Schlafapnoe und Schnarchen auseinandersetzen. Ersterer hat sich intensiv mit dem pulmonal- arteriellen Hochdruck bei schlafbezogenen Atmungsstörungen beschäftigt und mit diesem Thema auch habilitiert. Jürgen Mayer hat viele Studien zum Zusammenhang Schlafapnoe und arterieller Hypertonus durchgeführt. In London hat er die Technik der invasiven Blutdruckmessung gelernt und dieses Verfahren dann auf der hiesigen Intensivstation etabliert. Die Kerngruppe wurde später mehrfach erweitert. Es würde den Rahmen des Artikels sprengen, wollte man auf jeden persönlich eingehen.

Der Marburger Koffer.

„Marburger Koffer“ mit Instrumentarium am Patienten. Der Patient trägt bereits Abdomen- und Thoraxgurt zur Ermittlung der Atmungsbewegungen. Zudem Elektroden zur Ableitung eines EKGs sowie 2 Sensoren am Brustkorb links zur Registrierung des transkutanen Sauerstoffs. Im Koffer selbst sind Akku, Kassettenrekorder und Monitorsystem zu sehen.

marburger koffer

Der „Marburger Koffer“ und die „MESAM-Systeme“.

Zurück zu den Anfangsjahren: Man war sich schnell im Klaren darüber, dass man nur mithilfe eines ambulant einsetzbaren mobilen Messsystems eine Vielzahl von Patientinnen- und Patienten-Daten erhalten konnte. Gemeinsam mit Professor Karl Meinzer, dem Leiter des zentralen Elektroniklabors der Universität, hat JHP dann das weltweit erste ambulant einsetzbare 4-Kanal-Mess-System entwickelt, den sogenannten „Marburger Koffer“. In diesem schwarzen Aktenkoffer war die komplette Technik zur Registrierung von Atmung von Abdomen und Thorax, transkutanem Sauerstoff sowie der Herzfrequenz untergebracht. Zudem natürlich die Energieversorgung (aufladbarer Akku) und ein handelsüblicher Kassettenrekorder, auf dem die Patientinnen- und Patienten-Daten gespeichert werden konnten. Wir, die ersten Doktoranden von JHP, bekamen die Aufgabe, mithilfe des „Koffers“, der übrigens erst später von ausländischen Ärzten „Marburger Koffer“ genannt wurde, Registrierungen bei auffälligen Patientinnen und Patienten durchzuführen. Die Promotionsthemen waren selbstverständlich unterschiedlich. Die Betroffenen, die von den Ärztinnen und Ärzten der Poliklinik als apnoeverdächtig eingestuft worden waren und für eine Messung mit dem „Koffer“ infrage kamen, sollten in ihrer häuslichen Umgebung, sprich in ihrem Bett, über die Schlafenszeit hinweg registriert werden. Verdächtig auf Schlafapnoe waren zu damaliger Zeit vor allem übergewichtige Männer, die von ihren Ehefrauen als extreme Schnarcher mit Atempausen beschrieben wurden. Noch dazu waren viele Patienten „hundemüde“ und hatten zudem noch einen arteriellen Bluthochdruck.

Umwege und Stolpersteine. Die Anfänge erforderten Durchhaltewillen.

Gegen 18.00 Uhr haben wir Doktoranden uns auf den Weg zu den Patienten im Kreis Marburg-Biedenkopf gemacht, um diese vor Ort zu „verkabeln“. Nicht selten mussten wir Umwege fahren, um die kleinsten Dörfer im Hinterland zu erreichen. In der Regel ging das Anlegen des apparativen Equipments vergleichsweise komplikationslos, je nachdem wie einfach die Patienten zu händeln waren und wie geschickt man sich mit der Technik angestellt hat. Die Patienten wurden instruiert, wie sie mit dem Koffer umzugehen hatten. Natürlich mit Vorsicht, damit keine Kabel und Elektroden abrissen. Und richtig, natürlich mussten wir am anderen Morgen um 5.00 Uhr (bei Regen und Schnee) beim Patienten sein, damit dieser seiner täglichen Arbeit nachgehen konnte. Sonden, Kleberinge, Pflaster und Gurte wurden entfernt, die Hilfsmittel im Koffer verstaut. Dann noch ein kurzer Blick auf die im Rekorder befindliche Kassette und man verdrehte die Augen. Ich will ehrlich sein: Etwa die Hälfte der Messungen waren nicht auswertbar, entweder gab es Bandsalat, die Elektroden waren abgefallen oder das komplette System war mangels Akkuladung bereits frühzeitig abgestürzt. Es war offensichtlich, so JHP, dass wir Doktoranden dafür verantwortlich waren. Wir hätten die Elektroden und Sauerstoffsonden besser fixieren sollen, nicht mit weißem, sondern braunem Pflaster. Am Folgeabend mussten wir somit erneut bei den Patienten zur Anlage des Rekorders antreten. Spätestens nach einer erneuten fehlgeschlagenen Messung, war auch der Patient nicht mehr allzu gut auf uns zu sprechen. So hat die Geschichte der nächtlichen Koffer-Messung begonnen, nach und nach wurden wir immer geschickter, die Technik besser und die Ergebnisse der „Polygraphie“ waren bei über 80–90 % der Patienten verwertbar.

Vor Beginn der Messungen (Polygraphien) wussten wir Doktoranden selbst nicht so genau, ob es das Krankheitsbild der „Schlafapnoe“ wirklich gab. Aber spätestens nach dem Auswerten der vielen Patientendaten, die auf zig Kilometern Papierrollen fixiert wurden, war uns klar, dass das Krankheitsbild „Schlafapnoe“ wirklich existierte und zwar häufiger als erwartet. Peter von Wichert und JHP haben die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse dann in Deutschland auf pneumologischen und internistischen Kongressen vorgetragen. Später waren alle Mitglieder der Arbeitsgruppe an der nationalen und internationalen Verbreitung der eigenen Studienergebnisse beteiligt. Nach und nach wurde die Schlafapnoe auch in Deutschland als „Diagnose“ salonfähig. Zuvor sahen wir uns häufig mit dem Terminus „Morbus Marburg“ konfrontiert. Ob man das als gut oder schlecht, als Anerkennung oder Missachtung zu bewerten hatte, wurde uns nach und nach klarer. Aber so ist es immer, wenn man mit etwas Neuem bzw. Unbekanntem konfrontiert wird!

Der Marburger Koffer wurde im Laufe der Jahre mithilfe der Firma Madaus Medizin Elektronik aus Freiburg miniaturisiert und optimiert, vom MESAM 2 zum MESAM 4 zum Poly-MESAM (MESAM = Madaus Electronics Sleep Apnea Monitor). Aufgrund zunehmender Bekanntheit des Krankheitsbildes Schlafapnoe war eine professionelle Fertigung ambulanter Screening-Systeme zur Diagnostik und Therapiekontrolle notwendig geworden. Die ersten MESAM-Systeme wurden ab 1987 in Serie gefertigt.

Unter Supervision von JHP wurden mehrere epidemiologische Studien – u. a. auch in Industrieunternehmen – durchgeführt, anhand derer nachgewiesen werden konnte, dass die obstruktive Schlafapnoe als kardiovaskulärer Risikofaktor für arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, koronare Herzerkrankung oder chronische Herzinsuffizienz angesehen werden musste.

first PC supported bedside sleep device

Das erste PC-gestützte bettseitige Schlafgerät, das 1986 in Marburg eingesetzt wurde.

first PC supported sleep device

Das mobile, mit Rädern ausgestattete Schlaflabor „SIDAS“ mit integriertem PC und Tintenstrahldrucker.

Von der Polygraphie zur Polysomnographie – die „SIDAS“-Serie.

Im Laufe der Jahre und mit immer größer werdender Anzahl Patientinnen und Patienten gab es im Marburger „Zeitreihenlabor“ dann auch stationär anwendbare 8- und Mehrkanal-Systeme. Es wurde immer offensichtlicher, dass viele dieser Betroffenen auch unter Symptomen wie Tagesschläfrigkeit, Sekundenschlaf, nächtlichem Schwitzen, Herzrasen, Nykturie, Erstickungsgefühl sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen litten. Vor allem galt das Interesse der Frage, ob die „Tagesmüdigkeit“ durch eine gestörte Schlafstruktur bei obstruktiver Schlafapnoe bedingt sein konnte. Genauso wichtig war es aber auch zu wissen, was mit den Herz-Kreislauf- und Atmungsparametern in den unterschiedlichen Schlafstadien passierte. Traten Herzrhythmusstörungen vorwiegend im NREM- oder REM-Schlaf auf? Anfänglich erfolgte die Klassifizierung der Schlafstadien in Marburg noch nach Loomis und Bente. Dies war der Tatsache geschuldet, dass JHP diese Bewertungskriterien bei den SIFA-Untersuchungen angewandt hatte. Später wurde die Analyse der Schlafstruktur nach den Kriterien von Rechtschaffen und Kales aus den USA angewandt. Die ersten Polysomnographien wurden 1986 durch das in Zusammenarbeit mit Frank Stott in Oxford entwickelte mobile 8-Kanalsystem „SIDAS 2000“ (Sudden Infant Death Analysis System) ermöglicht. 1989 wurde das System auf 10 Kanäle erweitert („SIDAS 2010“).

Moderne Schlafdiagnostik

Kompaktere CPAP-Geräte im Laufe der Jahre.

Im Hintergrund das erste CPAP-Therapiegerät der französischen Firma SEFAM. Das Gerät hatte die Größe eines Kühlschranks, man konnte es auf Rollen bewegen. Durch die Gewichts- und Größenreduktion können die neuen CPAP-Geräte problemlos bewegt und platziert werden.

Schlafatemtherapiegeräte in der heutigen Zeit
development of cpap therapy devices

Die Anfänge der CPAP-Therapie.

Eine Erkrankung, die als kardiovaskulärer Risikofaktor eingeschätzt wird, sollte selbstverständlich auch eine Therapie zur Folge haben. Zu damaliger Zeit war die continuous positive airway pressure (CPAP-)Therapie, die erstmals in Australien bei OSA-Patientinnen und -Patienten angewandt wurde, noch ziemlich umstritten. Heinrich Becker wurde 1985 Assistenzarzt bei Professor von Wichert und hat, zusammen mit JHP, die CPAP-Therapie erstmals in Marburg durchgeführt. In den Folgejahren ist die nicht-invasive Ventilation, bei verschiedensten Krankheitsbildern auf der Intensivmedizin angewandt, der Forschungsschwerpunkt und das Habilitationsthema von Heinrich Becker gewesen.

Das „Unternehmen Schlaflabor“ – Personal und finanzielle Mittel.

Es war zweifellos eine besondere Befähigung der Professoren von Wichert und JHP, junge Ärztinnen und Ärzte sowie Studentinnen und Studenten für die klinische Forschung und Wissenschaft um sich zu scharen. JHP hat über zwei Jahrzehnte hinweg eine große wissenschaftliche Arbeitsgruppe aufgebaut und koordiniert. In Spitzenzeiten umfasste die Arbeitsgruppe etwa 50 Mitarbeitende. Dazu gehörten Ärztinnen und Ärzte verschiedener Disziplinen, Medizinstudierende, Physikerinnen und Physiker, Psychologinnen und Psychologen, Humanbiologinnen und Humanbiologen, Chemikerinnen und Chemiker und sogar Juristinnen und Juristen sowie Pfarrerinnen und Pfarrer. In den Anfangsjahren, das sei hier noch einmal ausdrücklich erwähnt, gab es immer wieder Probleme mit der Anschlussfinanzierung von Mitarbeitenden. JHP, das muss man ihm hoch anrechnen, hat des Öfteren auf seine eigenen Finanzen zurückgegriffen. Er war von der Sache so überzeugt, dass es ihm wichtig war, die Thematik unter allen Umständen inhaltlich voranzubringen. Zweifellos brauchte man dazu Manpower und auch einen entsprechenden finanziellen Hintergrund! Einmal mehr wird auch an der Geschichte der Entwicklung des „Schlafmedizinischen Zentrums Marburg“ klar, wie wichtig es damals war, dass die Forschung auch vonseiten der Industrie unterstützt wurde. Nur mit finanzieller Forschungsunterstützung durch pharmazeutische Studien sowie apparative Entwicklungen für die medizintechnische Industrie konnte eine fundierte wissenschaftliche Basis der Schlafmedizin erzielt werden. JHP hat zwei Dinge in hervorragender Manier vermocht: Er konnte begeistern und überzeugen. Sowohl Peter von Wichert als auch JHP haben es verstanden, uns junge Ärzte für die Wissenschaft zu sensibilisieren und zu motivieren. Dieser berühmte „Funke“, der vom Lehrer auf den Schüler überspringen muss, war zweifellos vorhanden. Noch heute sind wir unseren beiden Lehrern dafür dankbar, dass sie uns eine besondere Art des wissenschaftlichen Denkens gelehrt haben. Um kausale Zusammenhänge zwischen Symptom und Diagnose zu verstehen, sind Physiologie und Pathophysiologie zweifellos unabdingbar.

Alle hier gezeigten Bilder wurden uns freundlicherweise von Wilfried Gladisch zur Verfügung gestellt.

Beharrlichkeit und Erfolg.

Betrachtet man die Entwicklung der „Schlafmedizin in Marburg“ über 40 Jahre hinweg, so hat nur die Ausdauer, die Beharrlichkeit und der persistierende Glaube an die „gemeinsame Sache“ dazu beigetragen, die Schlafmedizin mit all ihren Facetten in Marburg und Deutschland so erfolgreich zu etablieren.

sleep laboratory 1984
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